u.a. Arbeiten für:
- Eike Gramss: Tristan (Salzburg), Rosenkavalier (Florenz)
- Dorothee Oberlinger: Lucio Silla (Händel, Herne/Göttingen/Ludwigsburg), Aci, Galatea e Polifemo (Händel, Salzburg)
- Karoline Gruber: pierrot lunaire (Salzburg)
Musikalische Analysen der Bühnenwerke Mozarts (zyklisch) und Händels.
Projekte über Alban Berg: Wozzeck, Lulu (Problem des 3. Akts), Pelléas et Mélisande, Le Sacre du Printemps.
LIBRETTISTIK:
Beratung zur Stoffauswahl und Dramaturgie, Herstellung von Strichfassungen.
Eigene Texte zur Vertonung.
Referenzen:
Dorothee Oberlinger
Wolfgang Niessner hat mich im Rahmen meiner ersten Opernprojekte eingehend dirigentisch gecoacht, wovon ich heute sehr profitiere.
Nicht nur seine profunde Einführung in die Dirigiertechnik, sondern auch sein umfassendes Wissen über Komposition, Stil, formale Anlage und Dramaturgie eines Werks, Kolorierung eines Basso Continuo, Klangfarben und deren Balance – alles im Dienste des Affekts und inspiriert von seiner langjährigen Zusammenarbeit mit Nikolaus Harnoncourt – hat mir die notwendige Basis für die musikalische Arbeit im Musiktheaterbereich vermittelt.
TEXTE:
„Recitata in Musica del Sig.r MonteVerde l’anno 1642.“
Autorschaft, Fassung und Orchestration in Monteverdis Poppea.
„L’incoronazione di Poppea“ galt lange unumstritten als Komposition Claudio Monteverdis, ohne dass es dafür eindeutige Belege aus der Zeit der Uraufführung gegeben hätte.
Erst die Schlussbemerkung des in den 1990er Jahren aufgefundenen Udineser Librettos weist als eine der wenigen Quellen auf Monteverdi als Komponisten der Oper hin, somit auch des umstrittenen dritten Aktes. Gleichwohl bleiben noch einige Fragen zu Autorschaft und Werkgestalt offen.
Der greise Komponist dürfte mit jüngeren Kollegen seiner Schülergeneration zusammengearbeitet haben, vergleichbar einem barocken Maleratelier, wie neuere Forschungen und Funde von Lorenzo Bianconi und Alan Curtis belegen.
Es lassen sich die Komponisten Francesco Sacrati (1605 – 1650), der wohl die Schlußredaktion des venezianischen Partiturbestands innehatte, und Francesco Cavalli (1602 – 1676), der die Reprise von 1651 leitete und möglicherweise die neapolitanische Produktion des selben Jahres redigierte, namhaft machen. Eine weitere Nummer stammt von Filiberto Laurenzi (ca. 1619 – 1651), und das berühmte Schlußduett „pur ti miro“ erscheint als Text schon bei Benedetto Ferrari (ca. 1603 – 1681), falls es nicht früher von Monteverdi geschrieben wurde, wie Nikolaus Harnoncourt vermutet.
Der musikalische Bestand des dritten Aktes ist nach Arnaltas Abgang disparat, besonders die darauf folgende Szene zwischen Nerone und Poppea „ascendi, o mia diletta“, wie auch die stilistisch etwas später einzuordnenden Sinfonien der Krönungsszene, die als Werke Sacratis identifiziert wurden. Wir können die Aufsicht des schon kranken Meisters über die Fertigstellung nur vermuten.
Überliefert sind uns neben zahlreichen Libretti zwei rudimentäre Partituren aus Venedig und Neapel, die meiner Meinung nach als Stenogramme nach Aufführungsserien notiert wurden, möglicherweise erst Jahre später, und dem Musiker des Generalbaßzeitalters einen virtuellen Klangraum für verschiedene praktische Realisierungen offen ließen. Die Relation der beiden Manuskripte zu einer anzunehmenden Urfassung lässt sich beim jetzigen Forschungsstand nicht festlegen und wir hoffen eines Tages auf den Fund des „missing link“.
Von der Zusammenarbeit des Komponisten mit dem Textdichter Giovanni Franceso Busenello (1598 – 1659), sowie über weitere Details der Uraufführung ist uns nichts überliefert. Es wurde zum ersten Mal ein historischer Stoff vertont, dessen diffizile Charaktere und krasse Affektwechsel wohl das besondere Interesse Monteverdis erweckten. Als Musikdramatiker war er seinen Zeitgenossen auf geradezu mysteriöse Art überlegen, seine Klangrede entspringt einer besonders geschärften Seelenkenntnis, und die Komplexität seiner Opernfiguren wurde erst von Mozart wieder erreicht.
Man kann eine Oper dieser Zeit nach zwei Prinzipien orchestrieren: als Aufführung eines öffentlichen (später bürgerlichen), auf wirtschaftlichen Erfolg ausgerichteten Opernhauses Venedigs mit der Minimalbesetzung von fünf Solostreichern, zwei Cembali und einigen Lauten, oder als Aufführung einer reich ausgestatteten Hofoper, die als soziologisch ältere Position den größeren Farbenreichtum des barocken Illusionsprinzips verwendet. Beide Positionen sind als gleich richtig anzusehen, werden aber immer wieder polemisch gegeneinander ausgespielt. Wir können sicher annehmen, dass die Aufführung von Monteverdis „Ulisse“ 1641 am Wiener Kaiserhof dem zweiten Prinzip folgte.
Entschließt man sich zu einer reicheren Orchestration, ergeben sich in der frühbarocken Klangsymbolik folgende Zuordnungen und Kombinationen der einzelnen Instrumentengruppen:
Harfen: erotische Szenen bei Poppea und Amor, aber auch bei Drusilla, Nerone und im Schlaflied Arnaltas.
Baßlauten: rezitierend,eher introvertiert bei Ottone und Ottavia, gute Klangmischung mit Orgel.
Gitarren: folkloristisch und derb bei Arnalta und Valletto, gut mit Dulzian und Pizzicato der Streicher.
Cembali: rezitierend, oft extrovertiert bei Nerone, aber auch Ottavia, Drusilla, Ottone.
Organo di legno: nur 8’, leise und kontemplativ, bei Seneca, Ottone, Ottavia, gute Mischung mit den anderen Instrumenten im Continuo.
Basso: vorwiegend Violoncello, manchmal verstärkt durch Kontrabaß, sehr gut im Dialog mit dem etwas derberen Dulzian.
Blockflöten: lieblich, erotisch, pastoral, meist colla parte mit den Violinen.
Schalmeien: derb, äußerlich, rustikal. (Konnten in dieser Produktion leider nicht eingesetzt werden.)
Dulzian: frühes Fagott, derb bis bizarr, bei Arnalta und Valletto, manchmal Ottone.
Naturtrompeten in C, D: die gespielte Naturtonreihe als Symbol der göttlichen Macht und Natur, bei Amor, dessen Anrufung durch Poppea und der Krönungsszene.
Streicher: die Basis des Orchesters, überliefert sind nur Ritornelli und Sinfonien, ca. 5% der Spieldauer des Stücks. Es ist dem aufführenden Bearbeiter überlassen, weitere Sätze und Vokalbegleitungen im Sinn eines späteren Accompagnato auszuführen, ein manchmal umstrittener Punkt.
Ich begann meine Beschäftigung mit Monteverdis Bühnenwerken als Student von Nikolaus Harnoncourt, hospitierte bei dessen Züricher Zyklus und bereitete immer wieder Sänger vor, die dafür vorsingen wollten.
Bei Wahrung des Primats der Singstimme bin ich doch davon überzeugt, dass bei einem abendfüllenden Werk unser heutiges Ohr für die nervösen Reize und Klangwechsel eines farbigen Orchesters besser disponiert ist als für eine Minimalversion, die ich nach kurzer Zeit als historisch bemüht, aber zu eintönig empfinde und glaube auch, dass wir eine andere Empfänglichkeit für Affektwechsel haben als der frühbarocke Opernbesucher.
2009.
„CANTATA FATTO PER SERENATA“.
Händels erste Acis-Vertonung.
Der Auftrag zur Komposition von „Aci, Galatea e Polifemo“ erfolgte wahrscheinlich anlässlich der Hochzeit des fünften „Duca d’Alvito“, Tolomeo Saverio Gallio, 1708 anläßlich von Händels Aufenthalt in Neapel, das damals eine politische Einheit mit Sizilien bildete.
Das mag auch die Stoffwahl des lokalen Mythos von Acis, Galatea und Polifem für den dem arkadischen Schäferspiel zugewandten Hof erklären, wobei wir vermuten können, daß die Volksphantasie ursprünglich diesen Mythos als Personifikationen des allzeit bedrohlichen Vulkans Aetna (mit dessen Krater als Polifems Einauge), der durch diesen gefährdeten Fluren und Felder Siziliens (die Welt und das Land des Schäfers Acis) und des allumfassenden Meeres (das Element der Nereustochter Galatea) auffaßte.
In den überlieferten Manuskripten wird das Stück sowohl als „Cantata“ wie auch als „Serenata“ bezeichnet, wobei letztere eine abendliche szenische Freiluftaufführung zu festlichen Anlässen in entsprechendem Umfeld (z.B. einem Palasthof mit Grotte) und daher auch der möglichen Verwendung von Trompeten bedeutete.
Obwohl die musikalischen Quellen weder Szenen- noch Tempoangaben aufweisen, können wir die einzelnen Nummern in fünf Szenen zusammenfassen:
1. Glück und Gefährdung der Liebenden (Nr. 1 – 4), 2. Werbung und Bedrohung durch Polifem (Nr. 5 – 7), 3. Entwicklung des Konflikts durch die Rivalität zwischen Acis und Polifem (Nr. 8 – 11), 4. Polifems Verzweiflung und Mordgedanken (Nr. 12 – 16), 5. Galateas Schmerz und Polifems Einsamkeit (Nr. 17 – 19).
Drei kompositorische Aspekte lassen uns von einer barocken Praekomposition des musikalischen Materials im modernen Sinn sprechen:
Die gezielte Verwendung von je acht Dur- und Molltonarten mit ihrem symbolischen und affektiven Gehalt; die Anwendung verschiedener Tanzformen wie Menuett, Sarabande, Gigue, Bourée, Siciliano und Gavotte als Affektträger in den einzelnen Nummern; und eine an die Systematik der Opera Seria erinnernde Struktur von Dacapo – Arien mit ihren verschiedenen Tempi und Ausdrucksbereichen.
Einige dieser Arien seien nachstehend als Beispiele von Händels großer Charakterisierungskunst näher beschrieben:
Nr.8: „Dell’ aquila l’artigli“, A-Dur: Acis bezeichnet sich als Adler, dessen Klauen die Schlange vernichten, virtuos begleitet vom solistischen Cembalo. Ob Händel hier selbst als Adler auf den Tasten spielte?
Nr.10: „S’agita in mezzo all’onde“, F-Dur: Galatea sieht ihr Herz als Schiff im Sturm zwischen zwei Ufern (Männern) hin und her geworfen, vertraut aber ihrem guten Stern.
Als Menuett, das Galateas Emotionen über einer wogenden Triolenbewegung mäßigt, durchschreitet das Orchester verschiedene Klangräume, wobei die Baßlinie einmal höher und einmal tiefer gesetzt sein kann und im Mittelteil, der herrlich von Blockflöte und Streicherpizzicato ausgeführt wird, sogar von der Singstimme gebildet wird.
Nr.13: „Qui l’augel da pianta in pianta lieto vola“, Siciliano in C-Dur. Als zentraler Moment der Pastorale erleben wir den Schäfer Acis, obwohl schon von Todesahnungen erfüllt, in ruhevollem Einklang mit der Natur, konzertierend mit den Vogelstimmen von Solo-Oboe, Violine und Violoncello, als Spannungselement vor dem Mord und als Portrait Siziliens mit folkloristischen Anklängen.
Während der 16jährige Acis von einem Soprankastraten dargestellt wurde und Galatea ein Mezzosopran von mittlerem Umfang ist, machte die Partie des Polifem seit der Uraufführung wegen ihrer gigantischen Tessitura von D bis a1 und ihrer riesigen Intervallsprünge von sich reden, die der Textausdeutung von Worten wie „tuoni“, „orrori“, „profondo“ und „abisso“ dienen. Diese Intervalle erscheinen im Stück immer, wenn von Polifem, seiner Rachsucht und seinen Drohgebärden die Rede ist und bilden, konsequent durchgeführt, seine Arie Nr. 12: „Fra l’ombre e gl’orrori“, die sein von Einsamkeit geprägtes Gefühlsleben beschreibt, dargestellt durch das antike Seelensymbol des Schmetterlings.
Im emblematischen Vergleich erleben wir also den jungen Kindmann Acis als Adler und den traurigen Giganten Polifem als Schmetterling.
Das Verhältnis der beiden Rivalen Acis und Polifem wird weiters durch einen harmonischen Kunstgriff besonderer Art charakterisiert: Die Akkordverbindungen von Acis’ f-moll Sterbearie Nr.16: „verso gia l’alma col sangue“ finden wir, transponiert nach e-moll, in Polifems abschließendem Accompagnato Nr. 19: „vissi, fedel mia vita“ wieder, in dem er seinen Rivalen zitiert, wie dieser die Vereinigung seines ins Meer strömenden Blutes mit der Meeres-Geliebten Galatea beschwört.
In der Behandlung des Orchesters zeigt sich Händel als erst 23jähriger Komponist in Anwendung und Differenzierung der orchestralen Mittel bereits auf der Höhe seiner Meisterschaft, in Arien, die in reduzierter Dreistimmigkeit und starker Bildwirkung deutlichen Signalcharakter aufweisen, in Terzetten, die in frei gehandhabtem Parlando dem Accompagnato verwandte Formen finden, und in prächtig ausgeführten Nummern, die konzertierend Soli und Ripieno der Gesangsstimme gegenüberstellen.
Der Tradition der Barockoper folgend spielen wir eine vorangestellte Sinfonia, die entweder in der Haupttonart D – Dur oder einer verwandten Tonart stehen soll.
Da das Publikum nicht aufgewühlt durch das blutige Eifersuchtsdrama aus der Vorstellung entlassen werden durfte, endet das Stück mit einer frechen Gavotte als „Rausschmeisser“, in der der wiederauftretende Acis in Polifems Tonart D – Dur singt, und dieser den Text seines Rivalen wiederholt „Wer einmal wirklich liebte, hat treue Liebe und Beständigkeit als Ziel“.
Wolfgang Niessner, 2012.
KOMPOSITION UND AUFFÜHRUNG VON G.F. HÄNDELS ALCINA.
Händel schrieb Alcina, Opera in tre atti, 1735, wahrscheinlich im ersten Frühjahr, und stand dabei sichtlich unter Zeitdruck, denn die Uraufführung fand schon am 16.4. d.J. statt. Da er zuvor sein Stammhaus, das Haymarket Theatre, der konkurrierenden Adelsoper überlassen hatte, kamen seine letzten Opern und einige großen Oratorien im neuen Covent Garden Haus heraus, das außerdem Heimat einer fähigen französischen Balletttruppe war.
In der Verbindung des Ariensystems der Opera seria mit großen Ballet- und Chorbildern der aktuellen Zauberopern, die er sehr wirkungsvoll auch an den Aktschlüssen einsetzte, hoffte er, neue Publikumsschichten anzusprechen. Das Libretto basiert auf Ariosts Orlando furioso, wobei uns nicht alle Stufen der Textgenese durch die späteren Bearbeiter bekannt sind.
Bei den Wiederaufnahmen von 1736 und 1737 kam es zu starken Kürzungen und formalen Eingriffen in den Arien und Chor-Ballettbildern, da anscheinend weniger Mittel zur Verfügung standen. Die Figur des Oberto fügte Händel nachträglich für einen Knabensopran ein.
War es in unserer Zeit verbreitet das Prinzip, in das da capo-Schema bei Kürzungen nicht einzugreifen, und lieber Arien als Ganzes wegzulassen, erstaunt es doch, schon damals von Arien nur den A-Teil zu hören, der noch dazu auf der Dominante schließen konnte.
Der Handlungsablauf war ursprünglich mehr in den Secco-Rezitativen konzentriert, und den Arien normalerweise ein betrachtendes Element mit äußerem Stillstand der Zeit eigen. Mit den erwähnten Kürzungen von Arienteilen nähern wir uns wieder mehr einem stetigeren Fluss der Handlung an.
Kompositorischer Zugang zu einem Librettostoff:
Hatte sich ein Komponist des Barock einmal für ein Libretto in einer zeitgenössischen Version entschieden, entstand schon beim ersten Lesen der Plan der zu verwendenden Tonarten in den einzelnen Arien und Ensembles.
Die Charakteristik dieser Tonarten lässt sich in ihren Prädikaten und Affektbeziehungen letztendlich bis zu den antiken und mittelalterlichen Kirchen-Tonarten zurückverfolgen.
Eine Bühnenfigur ist aus Sicht des Komponisten daher durch die in den Arien verwendeten Tonarten charakterisiert, die bei einfachen Charakteren näher verwandt sind, und bei komplexen Figuren auch in dissonantem Abstand stehen können. Sie bilden damit eine erste Grundlegung der Inszenierung. (Siehe dazu die Aufstellung der Tonartenprädikate im Handout.)
Unser heutiges Verständnis der Tonarten wird außerdem noch durch die jeweilige szenische Situation verstärkt, mehr noch, als uns die Prädikate sagen können.
Die Secco-Rezitative fungieren sodann als tonale Brücken und sollen die komponierten Nummern einfach kadenzierend verbinden, können aber in komplexen Situationen auch ausgedehnte Modulationen durchschreiten. Normalerweise schrieben Komponisten wie Händel und später auch Mozart das Parlando in den Rezitativen für Frauenstimmen nicht höher als e2 (Passaggio), und wenn die Stimme dann einmal höher hinaus geführt wurde, war es immer Indiz einer extremen Gefühlslage, hier besonders auffällig bei Morgana.
Sängersystem und Affektgestaltung:
Die Opera seria verdankte ihren Erfolg wesentlich der Virtuosität und dem Glamour ihrer Gesangsstars. Man kann diese im ersten (prima donna, primo uomo), zweiten und dritten Fach ansiedeln, je nach der Bedeutung der Figur und der Anzahl der komponierten Arien.
Nach virtuoser Technik und Affektgestaltung kennen wir sieben Kategorien von Arien: aria agitata/di presto, di bravura, brillante, cantabile, di mezzo carattere, parlante und patetica, die ein Sänger des ersten Fachs alle in der Aufführung zeigen sollte.
Zudem basierten zahlreiche Arien auf Tanzformen wie Sarabande, Siciliano, Menuett, Bourée, Gavotte und Gigue, was wiederum den affektiven Gehalt der Stücke verstärkte.
Auch die überzeugende Gestaltung eines bestimmten Ausdrucks/Affekts war Teil der Virtuosität, besonders in der langsamen aria patetica.
Es wurde nur eine überschaubare Anzahl von Stoffen vertont, in zahlreichen aktuellen Bearbeitungen durch die Librettisten, und für das Kennerpublikum war es jedes Mal eine neue Herausforderung, die musikalische Umsetzung der Komponisten und die virtuose Realisierung der Gesangsstars mitzuerleben. (Das erinnert mich in manchen Zügen an das Remake eines bekannten Filmstoffes in neuer Schauspielerbesetzung.)
Im Einzelnen überwinden einige Arien in Alcina bereits die überlieferten Modelle der Seria. Daneben gibt es neben den Szenen von Alcinas Zauberwelt auch eine auffallend hohe Anzahl von arie parlante.
Formaler Aufbau und Aufführung:
Ähnlich wie die Tonarten bilden auch die damals verwendeten Bühnenbilder ein affektbezogenes System. Es ist für uns sehr ergiebig, die zu Bildern zusammengefaßten Szenen mit den Komplexen der verwendeten Tonarten in den Arien und Ensembles zu vergleichen.
So erleben wir im ersten Bild (wüste Insel, Verwandlung in das Zauberreich Alcinas) den Komplex A (Nr.1 Morgana) – am (Nr.8 Oberto) – F (Nr.9 Ruggiero) – D (Nr.10 Bradamante), unterbrochen vom großen Auftrittsbild Alcinas mit Tanzsuite und Chor (Nrn. 2-6) in G-gm-gm-G-B und Alcinas Arie Nr.7 in B.
Die Figur der Alcina wird in ihrer Zerrissenheit zwischen tiefster Liebe, größter Trauer und rachsüchtigem Wüten zukunftsweisend gestaltet.
Höhepunkt dabei ist ihre große Arie Nr. 23: „Ah, mio cor“ in cm, in der Tradition großer Lamenti stehend und gleichsam von den Tränentropfen des Orchesters begleitet.
Im Andante larghetto des ersten Teils erleben wir den Stillstand der äußeren Zeit, scharf kontrastiert vom aufgewühlten Mittelteil in ES „Ma, che fa gemendo Alcina?“, darin der Cleopatra in Giulio Cesare vergleichbar.
Durch die eingesetzten Tonarten B (Aria parlante Nr.7) – am (patetica Nr.12) – cm/ES (patetica/di bravura Nr. 23) – hm/e/G (Accomp./patetica Nrn. 26/27) – F (parlante Nr. 34) – fism (patetica Nr. 37) wird sie als Figur außerordentlich differenziert gestaltet. (Siehe dazu die Prädikate im Handout der Tonarten.)
Die verwendeten orchestralen Mittel waren ein weiterer Baustein in der Aufstellung der Hierarchie der Sänger.
Wir erleben einfache Arien, nur vom Continuo begleitet, und damit der sprachlichen Gestaltung den Vortritt lassend, Stücke mit einem sehr einfachen, dafür deutlich zeichnenden Satz und virtuose Nummern, in denen die Stimmen einem reich gegliederten Orchester, dessen Instrumentengruppen auch unter sich in einen konzertierenden Wettstreit treten konnten, gegenüberstanden.
In Morganas Arien Nrn. 20 und 32 finden wir Soli von Violine und Violoncello, wiederum in auffallend hoher Lage, was zum Charakter der Figur passte.
Basis des Orchesters war eine Streichergruppe, die von Oboen und Fagotten, die manchmal auch solistisch behandelt waren, verstärkt wurde, gelegentlich von Blockflöten und Piccolo ergänzt wurde, und in der Arie Nr. 35 auch zwei Hörner virtuos einsetzt.
Der Basso continuo wurde normalerweise von zwei Cembali, Theorben und Violoncello gestaltet.
Wolfgang Niessner, 2017.
G.F. HÄNDELS LUCIO CORNELIO SILLA ALS MODELL EINER OPERA SERIA.
I
Von der Entstehung und ersten Aufführung von Händels Lucio Cornelio Silla, von ihm als Opera in tre atti bezeichnet, wissen wir nicht viel. Nach der Datierung des Librettos können wir das Jahr 1713 zumindest für eine geplante Uraufführung annehmen.
Es wurden mehrere aufwändige Bühnenbilder verlangt, daher kam für eine szenische Produktion nur ein größeres Theater Londons in Frage, möglicherweise das Queen’s Theatre. Danach hörten wir lange Zeit nichts mehr von dem Stück, und die erste Wiederaufführung gab es 1990 in Paris, der der u.a. Produktionen in Köln, London und Halle folgten.
Der Librettist Giacomo Rossi, der mit Händel auch bei Rinaldo (1711) und Il Pastor fido (1712) zusammengearbeitet hatte, schuf ein Textbuch, das den populären und häufig vertonten Stoff vom Leben des Römischen Feldherrn und ausschweifend lebenden Diktators zum Inhalt hatte, aber daraus eine eigenständige Auswahl verschiedener Episoden aus dem Jahr 83 v. Chr. vornahm.
Die politischen Machenschaften und erotischen Verstrickungen Sillas lassen sich zeitlich auch an den Jahren um seine fünf Ehefrauen festmachen, von denen er einige verstieß. Mit Metella sind wir bei seiner vierten Gattin angelangt.
In seiner oft zufällig erscheinenden Konstruktion und wenig ausgeführten Entwicklung der Charaktere ist es sicher nicht der stärkste von Händel vertonte Text. Als Hauptquelle dienten Rossi Plutarchs Parallele Lebensbeschreibungen, und das Libretto ist in einer umfangreichen Vorrede dem Herzog von Aumont gewidmet, der sich zuvor große Verdienste um die Vermittlung des Friedens zwischen Großbritannien und Frankreich im Spanischen Erbfolgekrieg erworben hatte, und damit besonders geehrt werden sollte.
Wie in der Opera seria üblich, werden dem Publikum auf der Bühne bekannte Tugenden wie Beständigkeit, Treue, Opfer und Todesbereitschaft der Liebenden gezeigt. Als überraschendes lieto fine erleben wir die Selbstüberwindung des Herrschers/Tyrannen, der seine Widersacher begnadigt, wie in einem gleichnishaften Spiegel.
Dabei verfolgen wir die Lösung der Konflikte zwischen Staatsraison und erotischen Verwicklungen der verschiedenen Paare, an welchen auch der Herrscher beteiligt war.
Mit dessen abschließender Ehrung schließt sich inhaltlich wieder der Kreis zum Widmungsträger.
II
Basis dieser Operngattung war ein Sängersystem mit Kastraten, Primadonnen und Tenören, in dem es eine durch die Anzahl der Arien einer Figur aufgestellte Hierarchie der Fächer gab.
Gewählt wurde aus sieben Gattungen von Arien, mit denen die Solisten bedient werden mußten, um ihre Fähigkeiten dem Publikum demonstrieren zu können: aria di presto, agitata, di bravura, brillante, cantabile, mezzo carattere, parlante, patetica.
Diese Arien standen auch für Affektsituationen, die wiederum Teil einer den damaligen psychologischen Erkenntnissen entsprechenden Systematik waren, und zumeist paarweise auftraten, z.B. Liebe und Wut.
Für den Librettisten ging es also nicht unbedingt darum, stringent eine Handlung zu entwickeln, sondern mehr assoziativ im strikten Wechsel Rezitativ – Arie – Abgang die Stationen ergiebiger Affektgestaltung zu finden.
Duette und Ensembles gab es daher nur selten, und dann zumeist in der Funktion von Finali.
Cum grano salis können wir also feststellen, dass es den Handlungsfortlauf fast nur in den Rezitativen gab, während die Arien Momente des Stillstands der äußeren Zeit waren, in denen die Gefühle und Reaktionen der Protagonisten möglichst spektakulär erzeugt wurden.
Bezogen auf den Gesamtablauf der Oper können wir daher von einer stroboskopischen Struktur der Zeit sprechen.
Eine zentrale Funktion übten dabei die Da Capo-Arien als Herausforderung virtuoser Gestaltung mit einem oft kontrastierenden Mittelteil aus, durch den die Wiederholung des ersten Teils, von neuen Gefühlen gefärbt, anders erlebt wurde.
Der beauftragte Komponist hatte auf der Basis des Textes eine neue musikalische Sicht auf die Situationen der Handlung zu liefern, indem er die vokalen Fähigkeiten der Solisten möglichst gut herausstrich und ihnen zugleich feinste psychologische Darstellungen der Affektsituationen ermöglichte, einem Remake im heutigen Film vergleichbar.
Die Aufführenden wandten sich an ein Publikum von Kennern, denen der Stoff wohlbekannt war, und die in der aktuellen Version nach der Virtuosität und Ausdruckskraft der Sänger gierten.
Für die Produzenten ging es dabei um den Tageserfolg, der sich normalerweise nur für eine Saison in der Erinnerung des Publikums halten konnte.
Als moderne Besucher ist dies eine für uns nicht immer nachvollziehbare Tatsache, zumal es mit den angefügten Balletten am Schluss eines jeden Aktes zu einer kaum mehr vorstellbaren Spieldauer kam.
Salopp gesagt, können wir aus heutiger Sicht von einem Vorwand für demonstrierte Virtuosität und große emotionale Gestaltung sprechen, zumal die Stilisierung dieses kammerspielartigen inneren Prozesses mit modernen Mitteln nicht leicht auf der Bühne zu realisieren ist.
III
Wie wurde nun ein damaliger zeitgenössischer Komponist diesen Herausforderungen gerecht?
Basis bildete ein Tonartenplan, der sich zumeist beim ersten Studium des Librettos einstellte. Die Tonarten verfügten über ein überliefertes System zugeordneter Prädikate und stellten in ihrer Auswahl damit eine erste Interpretation der Handlung durch den Komponisten dar.
Anders gesagt wurde eine Figur durch die in ihren komponierten Nummern ausgewählten Tonarten charakterisiert, was besonders im Fall Sillas für uns sehr aufschlussreich ist. (Wir sollen dabei innere und äußere Darstellung unterscheiden, denn ein Held im D kann in einzelnen Fällen auch traurig sein). Und es ist eine ergiebige Aufgabe, diese Tonarten in ungleichschwebender Temperatur verschiedener Stimmungssysteme zu hören.
Einen ähnlichen Affektbezug hatten auch die Bühnenbilder, denn die Innen- und Außenraüme imperialer und sakraler Architektur, Meer, Hafen, Wald und Nachtszenerien sind auch Orte bestimmter Gefühlssituationen. Wir können daher eine direkte Entsprechung der zusammenhängenden Tonarten eines Szenenkomplexes (Bildes) zum Affektraum der Bühne herstellen.
(Daher mußten die Arien und die wenigen Ensembles auch nicht notwendigerweise in chronologischer Reihenfolge komponiert werden.)
Die Rezitative bildeten sodann eine tonale Brücke zwischen den Nummern, durchliefen aber in sich auch weitere, charakteristische Modulationen.
Im Fall von Händels Vertonung des Silla-Stoffes können wir ein auffallend deutliches Schwergewicht der Komposition auf die das seelische Innenleben darstellenden Durtöne F (Gefühl, Treue, Demut, Beständigkeit), B (Liebe, Edelmut) und die Molltöne aus g (Trauer, Trennung, tiefer Schmerz), f (Verzweiflung, Todesangst), a (Klage, Sehnsucht) und c (Nacht, Tod/Schlaf, schweigende Hoffnung) ausmachen. Der Komponist gestaltete dadurch in bedeutend stärkerem Ausmaß die inneren Aspekte der Handlung und legte weniger Wert auf Szenen äußeren Prunks und Machtgehabes. Nur in Claudios Arien erleben wir zwei Mal auch D (Macht, Freude, Rache), möglicherweise ein Vorgriff auf dessen zukünftige Machtposition.
Ein weiteres signifikantes Gestaltungsmittel des Komponisten war der bewußte Einsatz von Satztechniken im Orchester der Arien. Wir können eine Bandbreite von stark reduziertem Außenstimmensatz mit deutlicher Zeichnung musikalischer Signale bis zu ausgeführter Mehrstimmigkeit als Mittel komplexen Ausdrucks feststellen. Der derart reduzierte Satz läßt sich dabei mit einer Plakatüberschrift in wenigen großen, von weitem sichtbaren Lettern vergleichen.
In den Arien, die auch Tanzformen als Mittel gesteigerter Emotionalität zitierten, durchdringen sich zumeist die gängigen dreiteiligen Formen mit Prinzipien des Concertos, sodaß die Gesangsstimme auch in innigen bis heftigen Wettstreit mit den orchestralen Stimmen als Solo und Tutti treten konnte.
Wir finden Händels übliches Orchester auf der Basis von Streichern, Oboen und Fagotten vor.
Die Blockflöten, wahrscheinlich alternierend von Oboisten gespielt, dienen in einigen wenigen Nummern nur als Klangfarbe im Part der Violinen.
Eine solistische Trompete kommt nur in der entlehnten Anfangssinfonia und in Claudios erster Arie vor. Aus ökonomischen Gründen könnten wir uns vorstellen, dass dieses Instrument in den Ballettmusiken am jeweiligen Aktschluss stärker eingesetzt wurde.
IV
Wenn Händel im vorliegenden Werk auch nicht alle seine kompositorischen Mittel ausschöpfte, zeigte er uns doch, besonders im zweiten Akt, ein äußerst differenziert abgestuftes System seiner Kunst der Ariengestaltung, in dem er uns virtuos mit gestalterischen Perspektivenwechseln überrascht.
Im ersten Akt bleiben wir zunächst bei erprobten kompositorischen Lösungen, wie Sillas zu Beginn gleich seinem Ruhm aufsteigende Melodieführung (Nr. 1: „Alza il volo“, in B), Metellas aufgebrachte Figuration der Bassführung im ersten Continuoteil (Nr. 2: „Fuggon l’aure“ in g), Lepidos virile motivische Einfachheit (Nr. 3: „Se ben tuona il ciel irato“, in G), die originelle, die Sprache betonende Continuoführung in Claudios Auftrittsarie (Nr. 5: „Senti, bell’idol mio“, in F) und besonders dessen konzertierende, triumphale Aktschlussarie (Nr. 7: „Con tromba guerriera“, in D).
Mit Sillas mit Blockflöten seufzender Schlafcavatina (Nr. 9: „Dolce nume“, in F), der konzertierenden Bravourarie des Gottes (Nr. 10: „Guerra, strage, furor!“, in B) und dem folgenden, zwischen Entsagung und Wut pendelnden Siciliano Sillas (Nr. 11: „È tempo, o luci belle“, in g), haben wir den Höhepunkt in der musikalischen Gestaltung des Werkes erreicht.
Metellas ausgelassene Gigue (Nr. 14: „Hai due vaghe pupilette“, in B) und ihre konzertierende Arienbravour zum Schluss des zweiten Aktes (Nr. 18: „Secondate, o giusti dei“, in B) stellen großartige Herausforderungen für die Sängerin dar.
Und mit ihren seufzenden Liebesbezeugungen (Nr. 19: „Io non ti chiedo più“, in A) führt uns Händel zum vermeintlichen Paradoxon stärksten Ausdrucks in größter Ruhe. Flavias wilde Motorik (Nr. 23: „Stelle, rubelle“, in g) moduliert im langsamen Mittelteil („Ma infelice saria il vivere“) in die Ombra-Tonart ES, damit beschreitet Händel diesen Bereich nur kurz, im Gegensatz zu Mozarts 59 Jahre später entstandener Version des Silla-Dramas. In der flammend-erregten, konzertierenden Motivik des Liebesduetts Sillas und Metellas erleben wir einen letzten, abschließenden Höhepunkt des Werkes (Nr. 24: „Non s’estingue mai la fiamma“).
Mit dem Beginn der dreiteiligen Ouvertüre in B und dem Schluss der Oper in G ( Vitalität, Glück) hatten wir die für die Opera seria zumeist vorgeschriebene tonale Achse in D somit verlassen.
Die Frage nach der Herkunft von Ouvertüre und einleitender Trompetensinfonia soll uns dabei nicht weiter beschäftigen, denn solche Entlehnungen, vor allem aus eigenen Werken, waren nicht ungewöhnlich und sind dem damaligen Werkbegriff immanent.
2016.
JAHRE IM GOLDENEN HORN UND DANACH:
Meine grundlegende Beschäftigung mit Alter Musik in der Studienzeit bei Nikolaus Harnoncourt am Salzburger Mozarteum ab 1973.
Ich begann meine Studien im SS 73. Es war die Zeit der Amsterdamer Aufführung von Monteverdis Orfeo und Purcells Fairy Queen in Wien. Die Klasse war gleich von Anfang an sehr international, sehr vielseitig orientiert und sehr kompetent.
Der Unterricht fand im früheren Hotel Goldenes Horn in der Getreidegasse statt, parallel dazu gab es eine Seminar in der Musikwissenschaft in Mozarts Geburtshaus, in einem sehr langen und schmalen ehemaligen Hotelzimmer, sodaß man am Rubio-Cembalo gerade noch vorbeigehen konnte. Bei entsprechend zahlreich anwesender Hörerschaft saßen wir buchstäblich übereinander, zum Teil am Boden und fast unterm Cembalo.
Neben verschiedenen grundlegenden Studien, z.B. Stimmungssysteme, Temperatur und umfassenden instrumentenkundlichen Untersuchungen, beschäftigte ich mich vor allem mit den Bühnenwerken Monteverdis, hier zunächst mit dem Orfeo.
H. stellte mir seine eigene revidierte Partitur der Malipiero – Ausgabe und die Facs.Ausgaben der Frühdrucke bereitwillig zur Verfügung.
Als angehender Kapellmeister interessierten mich alle Fragen dazu, ausgehend von einer umfassenden Textkritik über gesangs- und besetzungstechnische Probleme, bis zu einer eingehenden Aufschlüsselung der Instrumentation. Das blieb über die Jahre meines Studiums ein zentrales Arbeitsgebiet für mich, des weiteren dann Poppea, der von mir über alles geliebte Ulisse und die szenischen Madrigale bis zum combattimento.
Insbesondere die Frage nach der Orchestergröße der beiden Spätopern Ulisse und Poppea beschäftigte uns über all die Jahre, wobei ich wie H. meinem kompositorischen Naturell nach immer zu einer großen, farbigen, zwar historisch älteren, aber klangikonographisch reicheren Version tendierte.
Das war und ist ein vieldiskutierter Punkt, s. dazu die Äußerungen J.E. Gardiners zu H.s Festspiel-Poppea 1993 und auch die FS. Hammerstein über Ulisse.
Beim ballo degl’ingrate hatte H. auch die Version von R. Leppard eingehend studiert, eine Kopie seiner Partitur mit Hinweisen auf Leppard besitze ich noch heute.
Da das Studium eigentlich ein Diplomstudium war, von dem es keine Prüfungsordnung gab, schloß ich mit einem Privatdiplom zwischen H. und mir ab, die Prüfungsarbeiten waren Orchestrationen von Rebels Le Chaos und Legrenzis Il Giustino.
In dieser Zeit, 1975, fuhr ein Großteil der Klasse H.s als Hospitanten mit zum ersten Orfeo in Zürich unter der Regie Ponnelles, und wir verfolgten die letzte Probenzeit über ca. zwei Wochen bis zur umjubelten Premiere. Später fuhr ich immer wieder zu verschiedenen Proben und Auff.n von Mozart – Opern nach Zürich.
Besonders interessant waren die Gespräche mit den Züricher Orchestermusikern über ihre Erfahrungen mit den Instrumenten des Monterverdi – Orchesters aus Sicht heutiger Musiker des modernen Repertoires.
Im Lauf der Jahre, als ich selbst schon als Lehrer wieder ans Moz. zurückgekehrt war, brachten wir oft die Stücke, vor allem Opern in den Unterricht, die H. gerade vorher gemacht hatte, oft für ihn zum ersten Mal. Da konnten wir noch unmittelbar seine Eindrücke der Produktion mitverfolgen, besonders bei den Mozartopern, wobei wir manchmal mit ganzen Ensembles von Gesangsstudenten auftauchten.
Als H. nach 2000 dann in Zürich einen zweiten Zyklus von Mv. – Produktionen machte, konnte ich am Beispiel des Ulisse einen neuen Standpunkt feststellen: mehr größeren Verläufen als der detaillierten Affektdarstellung gewidmet.
In dieser Zeit, als seine Tätigkeit als Operndirigent immer umfangreicher wurde, baten mich viele Sänger, die mit ihm arbeiten oder ihm vorsingen wollten, um Kontaktaufnahme. Ich organisierte daher so manches Vorsingen von Monteverdi bis Mozart, bis er so ausgelastet war, daß weitere Kontakte nur über Agenturen und seine Frau erfolgten.
Meine Bearbeitungen von Mv.’ Bühnenwerken begleiteten mich über viele Jahre, u.a. für Auff. von Teilen konzertant im Rahmen meiner Konzerte der Internationalen Paul Hofhaymer Gesellschaft Salzburg, zusammen mit neuen Kompositionen von mir, die in einem inhaltlichen Zusammenhang dazu standen.
Am Moz. kam es zu einer szenischen Produktion der Poppea unter meiner musikalischen Leitung mit dem Regisseur Hermann Keckeis, wobei ich für unsere Zwecke eine neue Fassung erstellte, die bei Eliminierung der kommentierenden Dienerfiguren und einer verkürzten, nur durch Amor erfolgten Krönung, auf eine Spieldauer von etwa 2 Stunden kam. Wir bildeten aus allen vorhandenen Kursen für AM ein Orchester mit Streichern, Bläsern und einer sehr umfangreichen Continuosektion von 13 Instrumenten.
Die an der Vorbereitung beteiligten Kollegen waren u.a. der Geiger Hiro Kurosaki, der concentus-Cellist Herwig Tachezi, der Continuist Anthony Spiri und der Harfenist Edward Witsenburg.
Salzburg, April 2008.
IDOMENEO – MOZARTS SCHLÜSSELWERK.
Wolfgang Niessner.
Nachdem er in seinem ersten Münchner Auftragswerk, „la finta giardiniera“, KV 196, 1775 den für die Komposition seiner späten Opere buffe entscheidenden Durchbruch in der Gestaltung von Arien und Aktschlußfinali geschafft hatte, wurde sein zweites Werk für den dortigen Hof, „Idomeneo, Re di Creta“, KV 366, als gattungsgeschichtlicher Solitär Wegbereiter für Mozarts spätere Opern.
Der Auftrag für den Karneval 1781 bildete nicht nur die denkbar größte Herausforderung für den Komponisten, sondern zugleich die Chance, den zusehends beengenderen Salzburger Verhältnissen zu entfliehen.
Mozart schrieb Idomeneo in Salzburg und München, wobei der anfangs zu Hause verbliebene Vater Leopold den Kontakt zum Librettisten Varesco für anfallende Änderungswünsche des Komponisten an den Text übernahm. Durch die zunächst auch räumliche Distanz zum Vater ist uns ein umfangreicher Briefwechsel zu Komposition und Produktion des Werkes erhalten, ein Dokument von nicht zu überschätzender Bedeutung.
Kurfürst Karl Theodor hatte mit der Mannheimer Kapelle 1778 nicht nur das damalige Spitzenorchester Europas mit einigen Mozart freundschaftlich verbundenen Stimmführern und Solobläsern nach München gebracht, sondern auch eine wie der gesamte Mannheimer Hof französisch orientierte Balletttruppe mit dem bei Idomeneo Regie führenden Ballettmeister Le Grand, sowie einige Solisten der Oper, die der Komponist bereits aus Mannheim und Paris kannte.
Der europaweit berühmte, damals schon 66jährige Tenor Anton Raaff übernahm die Titelpartie, die Schwägerinnen Dorothea und Elisabeth Wendling sangen Ilia und Elettra und der Mezzosoprankastrat Vincenzo dal Prato den Idamante.
Mozart schrieb in der damaligen Tradition die Arien den SolistInnen „auf den Leib“, d.h. genau ihren stimmlichen Vorzügen angepasst.
Idomeneo, Elettra und Arbace sind als Vertreter einer alten Gesellschaftsordnung musikalisch in vielen Details noch barock und frühklassisch charakterisiert, während die Arien von Ilia und Idamante, den Vertretern einer neuen Zeit, kompositionstechnisch in vielen Zügen auf die späteren da Ponte Opern vorausweisen.
Mit der Stimme des Orakels hören wir als deus ex machina ein besonderes Element der Barockoper, während mit dem berühmten Quartett „andrò ramingo e solo“ ein Gipfelpunkt der Ensemblegestaltung erreicht wurde, was nicht nur als Schauplatz einer Vater – Sohn Beziehung für uns wichtig ist.
So kann man formal von einer Kombination von Opera seria in der Abfolge der Rezitative und Arien und der französischen Tragédie lyrique in der Gestaltung der Tänze und Chorbilder an den Aktschlüssen sprechen und Mozarts Bezeichnung „dramma per musica“ soll wohl beiden Aspekten gerecht werden.
Idomeneo ist Mozarts Choroper schlechthin. Viele der zahlreichen Chorbilder dürften entweder getanzt oder in Kombination mit dem Ballett aufgeführt worden sein, sodass wir bei den großen Nummern durchaus von für die Handlung nicht mehr zwingend notwendigen Divertissements, also Aktschlußrevuen, mit den Programmen Befreiung/Lebenslust, Todesangst/Seesturm und Krönung/Hochzeit sprechen können. Dies mag ein für uns befremdlicher Zug sein, der besonders im Fall des mit der Handlung nicht mehr verbundenen abschließenden Hochzeitsballetts nach der Krönung Idamantes für heutige szenische Realisierungen ein größeres Problem darstellt, was oft zur Streichung der letzten Instrumentalnummern führte.
Einen besonderen Stellenwert nehmen als eigene Formschicht die zahlreichen Accompagnati ein, zumeist Handlungsträger, harmonisch komplex und mit reichlich motivischen Bezügen zum Ariengeschehen der Protagonisten – und eine bewusst abgehobene musikalische Sprachebene im Kontrast zu den vorkommenden Seccorezitativen.
Auch gibt es in der Partitur viele Beispiele für eine formale Verschränkung der einzelnen orchesterbegleiteten Nummern untereinander, von Arien, Accompagnati und Chören, sodass wir besonders im 3. Akt durchaus von einer Tendenz zur durchkomponierten Oper sprechen können, einem weiteren experimentellen Aspekt dieses Werkes.
Die verwendeten Tonarten waren für Mozart inhaltlich klar charakterisiert, so ist das vielzitierte g – moll von Ilias Anfangsarie „padre, germani, addio“ den Arien ihrer Kolleginnen Konstanze und Pamina nicht nur verwandt, sondern wir erhalten durch den dramaturgischen Vergleich der Texte weitere Aufschlüsse zur kompositorischen Verwendung,
und die wesentlichen Motive der Instrumentalnummern sind auf wenige zentrale Zellen zurückführbar.
Wir haben hier kompositorische Elemente eines in Mozarts Spätwerk zunehmend geschlosseneren Materialplans vor uns, und mit der zuletzt geschriebenen Ouvertüre und ihren motivischen Bezügen zu Idomeneo, Nettuno, Ilia und Idamante können wir zum ersten Mal von einer kompositorischen Vorwegnahme der Oper sprechen.
Die die Ouvertüre einleitende, bis zur Oktav aufsteigende Dreiklangsfanfare charakterisiert den König Idomeneo als Symbol von dessen göttergegebener Macht, erscheint absteigend in dessen großer Arie „fuor del mar“, aber auch in den seine Welt darstellenden Chören des kretischen Volks und als Signatur des Oberpriesters des Gottes Neptun.
Wir finden auch in der thematischen Gestaltung eine Hierarchie der Figuren; während sich Idomeneos Motive bis zur Oktav erstrecken, reichen die des Prinzen Idamante bis zur Quint und die der Prinzessin Ilia bis zur Terz.
Als Gegensatz zu dieser diatonischen Bauweise wird Nettuno in wenigen Takten durch ein chromatisch auf- und absteigendes Halbtonmotiv, gewissermaßen ein zweites Thema, dargestellt.
Über die Aufnahme der Uraufführung wissen wir nichts, auch wurde das Werk nur drei Mal in München gegeben.
Mozart war zeitlebens von der Bedeutung seiner Partitur überzeugt, und es gibt in seinen Wiener Jahren verschiedene Anläufe zu einer Umgestaltung des Werkes, von denen die nur als solche zu wertende konzertante Version von 1786 mit Idamante als Tenor und dementsprechend angepassten Ensembles ausgeführt wurde.
Idomeneo hielt sich im frühen 19. Jht. noch einige Jahre auf den Spielplänen, rückte dann aber aus dem Blickfeld des Opernrepertoires und wurde bis ins 20. Jht. immer wieder Objekt verschiedener Bearbeitungen als Versuche von Wiederbelebung und „Rettung“ des in seiner musikalischen Qualität unumstrittenen, aber gattungsgeschichtlich schwer zu greifenden und nicht stringent getexteten Werks.
Seit dem Vorliegen der Neuen Mozartausgabe 1972 können wir von einer neuen Stufe der Idomeneorezeption sprechen, nachdem sich auch das Münchner Uraufführungsmaterial samt Stimmen und die letztendlich notwendige Strichversion des Komponisten fanden.
2010.
WARUM SINGT SERVILIA IN D – DUR?
Mozarts Materialplan im „Titus“.
I
Die Wahl der Tonarten mit ihren Prädikaten und Affektzuordnungen stellt den ersten Schritt bei der Vertonung von Arien und Ensembles eines Operntextes dar. Mozart charakterisiert die Figuren und Situationen durch diese, ihr Verhältnis zueinander und den Modulationsverlauf in den komponierten Stücken. Im Quintenzirkel stehen benachbarte Tonarten im Dominantabstand, einfache mit wenigen Vorzeichen „oben“ nahe C-Dur. Je mehr Vorzeichen vorgeschrieben werden, desto komplexer und emotionaler ist die dramatische Situation. Aufwärts, dominantisch, werden die Kreuz-Tonarten „heller“, heiter/exzentrisch bis bizarr; abwärts, subdominantisch, die Be-Tonarten „dunkler“, ernst bis depressiv. Bei einer nichtgleichschwebenden Temperatur ergibt das verschieden „reine“ Terzen und Quinten und einen unterschiedlichen Höreindruck in den einzelnen Dreiklängen.
Hat eine Figur ihre Arien in benachbarten, verwandten Tonarten, weist dies auf einen unkomplizierteren Charakter mit weniger Entwicklung hin (Guglielmo, Papageno), ein dissonanter Abstand auf eine komplexe, von widerstreitenden Emotionen bestimmte Figur. So stehen die Arien der Fiordiligi in B und E, also im Tritonusabstand. Der Quintenzirkel bildet gewissermaßen ein emotionales Tachometer, das in beiden Richtungen je nach Bühnensituation mehr oder weniger stark aufgedreht oder zurückgefahren werden kann.
Während das Gerüst der Tonarten der komponierten Stücke von Anfang an feststand, konnten die Seccorezitative, die eigentlich die harmonische Verbindung zwischen den Nummern bilden sollten, textbedingt in entfernte Tonarten ausweichen, auch über die enharmonische Schwelle FIS/GES, die im Quintenzirkel den Gegenpol zu C-Dur bildet, hinaus.
Normalerweise ist eine opera seria des settecento tonartlich durch die Polarität von D-Dur (imperial, Staatsraison) und G-Dur (unmittelbar menschlich, reflektierend) geprägt. Politisches Machtstreben steht in Konflikt mit den Verstrickungen menschlicher Leidenschaften.
II
Ein weiterer Aspekt der musikalischen Figurencharakterisierung, und damit in unmittelbarem Zusammenhang mit der Wahl der Tonarten, ist die Art der thematischen Erfindung in den Arien und Ensembles:
Die imperiale oder göttliche Sphäre stellt sich durch fanfarenartige Dreiklangszerlegungen dar, die bei Herrschern und Göttern bis zur Oktave geführt werden, bei Thronfolgern (Idamante) bis zur Quint, und im rein menschlichen Bereich durch Terzen (als Symbol des Lebens) gebildet werden. Figaro als zutiefst menschliche Komödie wird thematisch fast ausschließlich durch Terzenbildungen bestimmt.
Figuren aus dem Jenseits haben keine Terz, sondern den leeren Quint-Oktavklang (Der steinerne Gast), ihnen fehlen die Zeichen menschlicher Lebendigkeit.
Alle diese musikalischen Gestalten können affirmativ/positiv aufsteigend oder deprimiert/negativ absteigend exponiert werden.
Chromatische Melodiebildungen und Durchgänge zeigen hohe emotionale (erotische) Spannung (Cosi), harmonische Bildungen wie z.B. drei aufeinander folgende verminderte Vierklänge erzeugen Zwölftönigkeit als Symbol totaler Katastrophe (Höllenfahrt Giovannis, Quartett Idomeneo, Quintett Tito).
III
Art und Dichte des musikalischen Satzes geben weitere Aufschlüsse, wie Mozart die Figuren und Situationen auf der Bühne kompositorisch interpretiert. Die unterschiedliche Dichte des Notenbilds zeigt das Geschehen gewissermaßen näher oder ferner aus dem Blickwinkel des Betrachters.
Im beginnenden musikalischen Klassizismus werden einzelne Nummern mit einfacher, liedhafter Melodik, reduzierten Begleitfiguren und kaum modulierendem Mittelteil ausgeführt, deutlich zeichnend und aus größerer Distanz lesbar wie ein Plakat in großen Lettern, in orchestral umgesetzten Klavierstrukturen, die zudem in ihrem reduzierten Duktus und sparsam eingesetzten chromatischen Intervallschritten als Elemente von Mozarts Spätstil schon auf die frühe Romantik vorausweisen.
Komplexe Strukturen mit kontrastierenden Melodiebildungen, ausgeprägter thematischer Entwicklung und stärker gegliederten Mittelteilen sind Zeichen eines erhöhten dramatischen Ausdrucks.
Der Einsatz der Bläser erzeugt in dieser Transparenz besondere Farbwerte, wie z.B. Flöten statt Oboen in den Auftrittsarien von Vitellia und Tito. Dazu können die konzertierenden Klarinetteninstrumente als Steigerungsmittel im fiktiven Dialog mit dem geliebten Gegenüber in den Rondos von Sesto und Vitellia treten.
Im Duett Nr.7 in A (Liebe, Begegnung), „Ah perdono al primo affetto“, gehen Vokal- und Orchesterparts in verhaltenem Ausdruck quasi ident colla parte, sodaß das Verhältnis Annio-Servilia wie durch eine Milchglasscheibe betrachtet wird.
IV
Haupttonart im Titus, von der Ouvertüre bis zum abschließenden Sextett, ist nicht das imperial triumphierende D, sondern C: blasser, neutral, unentschieden in einer Balance widerstreitender Energien.
Nach der prunkvoll-düsteren Huldigung durch das Volk in ES, marcia Nr. 4 und coro Nr. 5: „Serbate, oh Dei custodi della romana sorte“ zeigt sich Titus unentschlossen und ratlos. In seiner ersten Arie Nr. 6 in G: „Del piu sublime soglio“, vorspiellos und von merkwürdig verquält-schweifender Melodik, wird er von einem einfach gesetzten Orchester ohne größere thematische Entwicklung begleitet.
Vergebens ringt er in Nr.8 in D: „Ah, se fosse intorno al trono“ um „felicità“, das Thema erreicht nur die Terz und knickt dann subdominantisch nach h als Terz von G-Dur ein. Die Arie wird dem herrscherlichen Anspruch von D-Dur nicht gerecht, nur in der Reprise bei „un vasto impero“ schwingt sich Titus zu imperialem Gestus auf, thematisch eingeleitet durch eine von der Oktav absteigende Dreiklangszerlegung.
In Nr. 20 in B (bemüht um die Stabilität einer noblen Haltung): „Se all’impero, amici dei“, einer Devisenarie von größerer Anlage mit einem Menuett als Mittelteil, sucht er Ende und Lösung seines inneren Konflikts, will den Ausgleich von Herrschaft und Liebe zum Volk. Dreiklangszerlegungen erreichen aber nur zum Beginn des Vorspiels die triumphale Oktav.
Vitellias beide Arien sind auch durch die gewählten Tonarten Beispiele differenzierter menschlicher Innenschau:
In Nr. 2 in G: „Deh, se piacer mi vuoi“ lockend, verlangend und berechnend gegenüber Sesto, und in Nr. 23, Rondo in F (Demut in Todesnähe): „Non piu di fiori vaghe catene“ im Larghetto von äußerst schlichter, fast volksliedhafter Melodik, im schnellen Allegro in f-moll (Verzweiflung) im virtuosen Dialog mit dem konzertierenden Bassetthorn.
Sesto zeigt in Nr. 9 in B: „Parto, ma tu ben mio“ ausführlich seine bei aller gewahrten Noblesse totale Abhängigkeit von Vitellia, dialogisierend mit der Bassettklarinette, und im Rondo Nr.19 in A (Liebe, Begegnung): „Deh per questo istante solo“ seine Liebe zu Tito, in vorwiegend von Terzen geprägten musikalischen Gestalten, die sich nur im Piu Allegro „disperato vado a morte“ markant im Orchestertutti zur Quint aufschwingen.
Publios einfache Menuettarie Nr.16 in C: „Tardi s’avvede d’un tradimento“, taumelnd-leiernd von Pizzicatozerlegungen begleitet und von kurzen, aus einer absteigenden C-Dur Dreiklangszerlegung abgeleiteteten, Seufzern gebildet, ist die Karikatur eines Funktionärs im Umfeld der Macht.
Servilia appelliert in ihrer Arie Nr. 21 in D: „S’altro che lagrime“ an Vitellias imperiale Verantwortung, Sesto zu retten.
Die zahlreichen, im ersten Teil nur ins piano führenden crescendi zeigen ihre widerstreitenden Gefühle unter der schlichten, liedhaften Melodik.
V
Diese Überlegungen gelten ebenso für Mozarts Instrumentalmusik, die demselben Ausdrucksbedürfnis und Formwillen entstammt, und sind daher auch für die Wahl der Tonarten von Sinfonien und Konzerten ausschlaggebend. So manche Themen seiner Klavierkonzerte präsentieren und entwickeln sich wie ihre tonartlich identen, verwandten Protagonisten der Opernbühne, z.B. Figaro (KV 467 in C im Vergleich mit „Non piu andrai“) oder Dorabella (KV 595 in B: „È amore un ladroncello“). Seine dramatischen Vokal- und sinfonischen Instrumentalwerke durchdringen und bedingen sich gegenseitig in vielen Aspekten von Tonartenwahl, Instrumentation, thematischer Erfindung und formaler Entwicklung, was für die Interpreten eine ständige neue Herausforderung bedeutet. Das Verständnis des einen Bereiches ist ohne die Erfahrung des anderen nicht möglich.
Wolfgang Niessner, Februar 2014.
CIMAROSAS IL MATRIMONIO SEGRETO – AUS GESPRÄCHEN MIT BÜHNENBILDNERN, DIRIGENTEN UND SÄNGERN.
Die dramatische Grundstruktur einer frühen italienischen Komödie lässt sich in den Beziehungen ihrer Hauptfiguren auf die commedia dell’ arte zurückführen: Die Haupthandlung entspringt der Rivalität zwischen dem komischen, verliebten Alten Pantalone und dem jungen,listenreichen Diener Truffaldino um die Gunst der schönen Colombine, ursprünglich in den ältesten antiken Vorläufern ein Paradigma der sich erneuernden Natur.
Dazu kennt die Generation der Alten neben dem redselig-gelehrten Dottore Graziano noch den prahlerisch-werbenden Capitano und auch Colombine und Truffaldino haben unterschiedlich individualisierte Geschwister und Freunde auf der Bühne.
Dieses Handlungsmodell mit den drei Hauptfiguren gilt in seinen Grundzügen neben mancher Ausprägung einzelner Nebenhandlungen für die italienische opera buffa bis zu den Spätwerken Falstaff und Gianni Schicchi, die ursprüngliche Struktur ist am deutlichsten in Donizettis „Don Pasquale“ zwischen Pasquale, Ernesto und Norina erkennbar, wobei Dottore Malatesta als Freund Ernestos eine Sonderposition einnimmt.
In der durch die Kombination mehrerer Handlungsstränge äußerst virtuosen Dramaturgie von da Ponte/Mozarts le nozze di Figaro ist die Dienerposition Figaros als Contrapart zu Dottore Bartolo vorhanden, die Figur des Grafen Almaviva, der noch einige Züge des Capitano trägt, rückt aber als der eigentliche Gegenspieler ins Machtzentrum.
Im Gegensatz zu der durch eine Vielzahl von betrachtenden und in einem stark schematisierten Szenenbau auf die Secco-Rezitative folgenden da capo-Arien stroboskopisch unterbrochenen Handlungsstruktur der opera seria wird in der opera buffa ein Echtzeitmodell des dramatischen Geschehens angestrebt, wobei die Handlung mehr und mehr in die komponierten Musiknummern integriert ist.
Die Bedeutung der zahlreichen aus dem Volk gegriffenen Figuren und deren Ausdrucksweise machen sie zu einem Wegbereiter des Realismus auf der Opernbühne.
Der komische Darstellungsstil in seiner physischen Mechanik und das virtuos-buffoneske parlando stellen einen dramatischen Eigenwert über die bloße Bedeutung des Textes hinaus dar und bilden damit in Ansätzen eine Vorstufe zum absurden Theater, was ein wichtiger Aspekt für eine moderne Realisierung werden kann.
Unter diesen Aspekten lassen sich auch Ort und Zeit einer heutigen Inszenierung fern vom 18. Jht. ansiedeln.
Der Neapolitaner Domenico Cimarosa (1749 – 1801) zählte als Schöpfer sowohl auf dem Gebiet der seria als auch der buffa zu den berühmtesten Komponisten seiner Zeit. Auf besonderen Wunsch Kaiser Leopold II. wurde er von St. Petersburg nach Wien berufen, wo er den Platzhalter Salieri alsbald verdrängte. Als besondere Auszeichnung wurde ihm der Auftrag für die den Höhepunkt des Karnevals darstellende opera buffa übertragen.
Sein Librettist Giovanni Bertati (1735 – 1815), den wir vor allem als Schöpfer von Gazzanigas Don Giovanni kennen und der nicht ohne Einfluß auf da Ponte bleiben sollte, hatte die ursprünglich englische, auf Hogarths berühmtem Bilderzyklus marriage à la mode (1745) und der Komödie The clandestine marriage der Autoren/Schauspieler Colman und Garrick (London, 1766) beruhende Vorlage geschickt ins Bologna des settecento transferiert.
Als Abspaltung der um sozialen Aufstieg in adelige Gefilde bemühten Pantalone-Figur des zudem noch schwerhörigen Geronimo erleben wir dessen verwitwete Schwester Fidalma, die als ältere Frau ein Auge auf den jungen Buchhalter Paolino geworfen hat, der als kurz zuvor heimlich angetrauter Ehemann der gleichfalls jungen Carolina bereits am Ziel ist und mehr als schmachtender Liebhaber denn als listenreicher Truffaldino auftritt.
In Conte Robinsone treffen wir auf einen liebenswert-abgewrackten Nachkommen des Capitano, der in seiner Unbeholfenheit erst nach einigen Wirrungen zu Carolinas älterer Schwester Elisetta findet.
Cimarosa strebte ein realistisches parlando seiner Figuren an, komponierte syllabisch auch gegen die Gepflogenheiten seiner berühmten Protagonisten. Koloraturen kommen als Stilmittel der seria mit Ausnahme der Arie der Elisetta, die als einzige auch tragische Züge trägt, nicht vor. Daher sind für diese Oper kaum traditionelle Varianten überliefert.
Für die musikalische Realisierung bieten sich den Sängern und Instrumentalisten reiche Erfahrungen aus dem aufführungspraktischen Fundus des 18. Jhts. an, insbesondere in möglichst zahlreichen Abstufungen der Artikulation zwischen legato und staccato und weniger durch Verzierungen und Passagenwerk.
Im Bau der Ensembles und Finali ist das Vorbild von Mozarts wenige Jahre zuvor gegebenen da Ponte-Opern spürbar, zumal dieser noch zu Lebzeiten Einlagen für Cimarosas Opern geschrieben hatte, und dessen nachkomponiertes Rondo der Susanna „Al desio, di chi t’adora“, KV 577, in die Uraufführung des matrimonio eingelegt wurde. Und so gibt es z. B. in Tonart, thematischer Erfindung und formalem Aufbau viele Parallelen zwischen den ersten Finali von Cosi fan tutte und il matrimonio segreto, andererseits wurde die Oper wichtiges Modell für nachfolgende Buffakomponisten, was ein Vergleich der Auftrittsarien von Geronimo und Bartolo in Rossinis “barbiere“ zeigt, sodaß Hanslick von einer heimlichen Ehe zwischen Mozarts Figaro und Cimarosas matrimonio sprechen konnte, als dessen Frucht wir Rossinis „ barbiere di Siviglia“ kennen.
Die exzessive und kontrastreiche musikalische Komik Rossinis ist ohne das Vorbild Cimarosas nicht denkbar und wir können Rossini nach einem Wort Nikolaus Harnoncourts als den Schöpfer unserer modernen Vorstellung von staccato verstehen.
Die Begeisterung des Kaisers nach der Premiere 1792 war so groß, dass er nach einem üppigen Souper für die Mitwirkenden die Wiederholung des Stücks am selben Abend befahl, wahrscheinlich ohne Orchester und mit dem Komponisten am Klavier, ein in der Musikgeschichte einzigartiger Fall.
Die Bedeutung der Oper wurde eine Generation später für die Nachwelt von Rossinis il barbiere di Siviglia (1816) überdeckt, sodaß wir sie heute nur noch selten hören.
Wolfgang Niessner, Mai 2009.
LULU DREIAKTIG
Wolfgang Niessner:
Der Salzburger Komponist und Kapellmeister war 1981 Friedrich Cerhas Assistent bei der österreichischen Erstaufführung der dreiaktigen Fassung von Alban Bergs Oper Lulu am Opernhaus Graz und beschreibt seine Erfahrungen mit der Aufführung des dritten Akts aus der Mitarbeit an mittlerweile 7 verschiedenen Produktionen.
Man wird an der Einbeziehung des dritten Akts in der Herstellung durch Friedrich Cerha nach vielen erfolgreichen Aufführungen nicht mehr vorbeigehen können.
Gleichwohl bereitet das Pariser Bild in III/1 Ausführenden und Publikum einige Probleme, und in vielen Fällen bleibt die szenische Lösung dieses auch in der Vorlage Wedekinds textreichen Massenbildes unbefriedigend.
Sinnvoll erscheint mir diese Szene, die das musikalische Material des die Protagonisten als Tiere der Menagerie des Tierbändigers beschreibenden und somit auch eine zwingende musikalische Entsprechung bedeutenden Prologs aufgreift, in der wir für Lulus Kreis den allmählichen Untergang innerhalb einer sich bürgerlich gebenden Scheinwelt konstatieren können, nur, wenn die drei großen Ensembles sich jeweils in einer dem Publikum auch in der Raumaufteilung nachvollziehbaren Form in die folgenden Dialoge Lulu – Marquis, Lulu/Geschwitz – Athlet und Lulu – Schigolch auflösen, die sich von den Ensembles absetzen sollen und Lulus endgültigen Niedergang durch Erpressung und den Mordplan am Athleten bedeuten.
Das führt sinnvoll zum Londoner Bild III/2 und macht die Rückkehr von Lulus verstorbenen Männern als mordende Kunden der mittlerweile zur Prostituierten Gewordenen glaubhaft, ein genialer Eingriff des die Textvorlage Wedekinds einrichtenden Komponisten, vergleichbar dem Wiederauftreten von Doktor/Hauptmann als konversierende Bürger nach Wozzecks Selbstmord im Teich in Bergs erster Oper.
Obwohl keine diesbezüglichen Äußerungen des Komponisten belegt sind, sind für mich Umfang und formale Dimension der dreiaktigen Oper nur einem Stück wie Wagners Meistersingern vergleichbar, ein manchmal ins Boulevardeske gekipptes, zerstörerisches Bild der Liebe, mit einigen überraschenden Parallelen, wie den Massenensembles in 2/4 mit durchgehender Sechzehntelbewegung des Parlando, das bei strengster Konstruktivität doch ein virtuoses Rubab darstellt wie Wagners Prügelfuge, und dem Quartett Lulu-Geschwitz-Alwa-Schigolch, das entsprechend dem Quintett in den Meistersingern noch einmal ein Moment des lyrischen Innehaltens vor der finalen Katastrophe bringt.
Kommentar zur Aufführung der Salzburger Festspiele 2010, Regie: Vera Nemirova.